[ÜBERSICHT]
 

 

 


 

Literatursoziologie


 

| Sozialgeschichte der Literatur

 

Man kann das Erkenntnisinteresse der Sozialgeschichte der Literatur in einem Satz zusammenfassen: Sie interessiert sich für den Zusammenhang zwischen Literatur und Gesellschaft. Dass diese Strömung der Literaturwissenschaft sich Ende der sechziger Jahre durchsetzte, ist kein Zufall, sondern verdankt sich einmal der Gegenbewegung gegen die damals noch vorherrschende Methode der Werkimmanenz, die sich weitgehend auf den Text als solchen beschränkte und zweitens der Studentenbewegung, die sich gegen die damals herrschenden politischen Verhältnisse richtete. Soweit zur Bestimmung der Sozialgeschichte ex negativo.

Wissenschaftsgeschichtlich betrachtet bezieht sich die Sozialgeschichte auf zwei methodische Vorläufer, die Sie beide bereits aus früheren
Sitzungen dieses Seminars kennen: Erstens bezieht sie sich auf die marxistische Literaturwissenschaft. Was hier für unsere Zwecke wichtig ist, kennen Sie durch die Sitzung über Adorno und Horkheimer. Wir hatten davon gesprochen, dass das methodische Vorgehen des Marxismus in einer Analyse der Produktionsbedingungen besteht. Und genau hier findet sich die Schnittstelle zu unserem Zugang über die Praxis: die Produktionsbedingungen kann am besten durch die Betrachtung der Institutionen und Arbeitsabläufe analysieren. Zweitens bezieht sie sich auf die empirische Literatursoziologie, die ihrerseits wieder einen Vorläufer im Positivismus hat, den sie ebenfalls bereits kennen, nämlich aus der Sitzung über Scherer. Scherer ging zwar per definitionem immer von der Persönlichkeit des Autors aus, kam aber dann auf seine Weise durch seine methodische Gewissenhaftigkeit auf viele Faktoren zu sprechen, die alle die Entstehung eines Textes beeinflussen. Der große Bereich der Schnittmenge mit der Sozialgeschichte besteht also in der Problemstellung, inwiefern die Entstehung, aber auch die Verbreitung und Rezeption von Literatur gesellschaftlich bedingt ist. Und viele dieser bedingenden Faktoren finden sich in den vermittelnden Institutionen des Buchhandels.

Ihren Niederschlag in der Disziplin hat die Sozialgeschichte vor allem in der Literaturgeschichtsschreibung gefunden. Dabei wird immer wieder mit den Begriffen "Vermittlung" und "literarisches Leben" gearbeitet. Diese Fokussierung der Problemstellung auf vermittelnde und rezipierende Instanzen hat natürlich dazu geführt, dass viele sozialgeschichtliche Literaturgeschichten mehr oder weniger ausführlich parallel zur herkömmlichen Darstellung literarischer Texte auch die Buchhandelsgeschichte referieren und versuchen, Wechselwirkungen zwischen Literatur und "literarischem Leben" nachzuweisen. Eine zweite Auswirkung besteht in der Ausweitung des Literaturbegriffs, die sich damals durchgesetzt hat. Neben dem bürgerlichen Kanon wurde nun auch Literatur analysiert, die im Buchhandel schon immer eine bestimmende, wenn nicht die bestimmende Rolle spielte, aber aus dem akademischen Bereich bewusst ausgegrenzt wurde: die sogenannte "Trivial-" und "Arbeiterliteratur". Der erweiterte Literaturbegriff ist also eine weitere Schnittstelle zur Literaturbetriebsforschung.

 

 

| Bourdieu

 

 Bourdieu arbeitet mit den Begriffen Feld, Klasse, Habitus und Kapital. Um also seine konkrete Analyse des „literarischen Feldes“ verstehen zu können, müssen zunächst einmal diese Begriffe kurz erläutert werden.

Mit dem Begriff „Feld“ bezeichnet Bourdieu ein gesellschaftliches Teilgebiet, in dem – salopp ausgedrückt – bestimmte eigene Spielregeln gelten, das aber nicht autonom ist. Bourdieu spricht von einem wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, politischen aber eben auch literarischen Feld (eine Grafik, die diesen Feldcharakter veranschaulichen soll, finden Sie im Anschluss an den Bourdieutext).

Der Begriff „Habitus“ richtet sich auf das Handeln der Akteure in einem Feld. So kann das Handeln einzelner, wie zum Beispiel der Autoren, erklärt werden ohne auf obskure Vorstellungen und Begriffe wie etwa „Genie“ zurückgreifen zu müssen. Die Handelnden in einem Feld sind zwar durchaus Individuen, handeln aber in erster Linie als Vertreter eines bestimmten Kollektivs mit bestimmten Interessen. Dabei gehört zum Habitus des Autoren allerdings unbedingt dazu, dass er sich den Anschein eines Genies gibt, um ebendiese „charismatische Ideologie“ zu bedienen.

Der Begriff „Kapital“ ist für uns besonders interessant, weil Bourdieu von verschiedenen Formen von Kapital ausgeht, von ökonomischem, symbolischem, sozialem und kulturellem. Gerade diese Unterscheidung zwischen verschiedenen Kapitalformen bietet die Möglichkeit, viele Verhaltensweisen innerhalb des Literaturbetriebs zu erklären; denn hier geht es eben nicht wie Adorno unterstellt hat, nur um Profit sondern eben auch um symbolisches Kapital.

Wie kann man also nach Bourdieu das literarische Feld genau beschreiben? Zunächst einmal durch die verschiedenen Institutionen, die an der Herstellung und Verbreitung beteiligt sind: Agenturen, Verlage, Buchhandlungen, Zwischenbuchhandel, Literaturhäuser, Literarische Gesellschaften, Bibliotheken usw. Dann kommen die einzelnen Akteure hinzu, also sowohl die Vertreter der genannten Institutionen als auch die Autoren und die Leser. Dabei verfolgt jede Institution und jedes Kollektiv eigene Interessen.

Die Produktion der Ware Literatur erfolgt dann materiell, symbolisch und kulturell. Die materielle Herstellung ist selbsterklärend, sie bezieht sich auf die Herstellung der materiellen Träger von Literatur. Die Produktion der symbolischen Dimension der Güter erfolgt durch die Vermittlung via Marketing, (literaturwissenschaftlichem/literaturkritischem) Kommentar. Hieraus erklärt sich beispielsweise das Phänomen, dass erfolgreiche Bücher ab einem gewissen Grad des Erfolgs nur um dieses Erfolgs willen gekauft werden: man möchte mitreden können, dabei sein usw. Sie werden sich hier an Adorno erinnern, der diesen Teilaspekt verabsolutiert hatte. Die Branche selbst verweist oft und gerne auf den kulturellen Aspekt der Produktion, denn die Ware Literatur ist nicht eine wie jede andere, sondern eben auch Träger von Kultur und immer noch bestimmendes Medium, was die Wissensvermittlung anbelangt.

Die dominante Klasse bei Bourdieu entspricht in etwa dem Geschmacksträgertypus bei Schücking. Sie entscheidet darüber, was als „hohe Literatur“ zu gelten hat und misst dies an Maßstäben wie etwa Komplexität als Selbstzweck, Anstrengung oder Perfektionierung.

Dabei sind die Austragungen der Interessenkonflikte zwischen verschiedenen Institutionen und Akteuren innerhalb des Feldes nicht nur Ausdruck unterschiedlicher literarischer Ansichten, sondern sind als Teil des Kampfes um Macht zu verstehen. Das ist zwar auch aber bei weitem nicht nur im ökonomischen Sinne zu verstehen; denn wie wir nun gelernt haben, ist im literarischen Feld nicht nur ökonomisches, sondern auch symbolisches und kulturelles Kapital von Bedeutung. So geht es beispielsweise um die Besetzung von Gatekeeper-Positionen, um die Beeinflussung dessen, was Foucault die Ausschließungsprozeduren nannte und schließlich auch darum, um sich einfach von anderen, vermeintlich weniger Gebildeten abzugrenzen. Bourdieu nennt das die „feinen Unterschiede“.

 

 

| Literatur

    • Baasner, Rainer: Soziologie der symbolischen Formen und literarisches Feld: Pierre Bourdieu, in: Rainer Baasner: Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft. Eine Einführung, Berlin, Erich Schmidt Verlag, 1996, S. 214-222.
    • Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag, 1999.
    • Bourdieu, Pierre: Künstlerische Konzeption und intellektuelles Kräftefeld, in: Pierre Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag, 1970, S. 75-124.
    • Bourdieu, Pierre: Elemente zu einer soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung, in: Pierre Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag, 1970, S.159-201.
    • Bourdieu, Pierre: Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag, 1991.
    • Bourdieu, Pierre: Rede und Antwort, Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag 1992.
    • Bourdieu, Pierre: Kunst oder Geld?, in: Pierre Bourdieu: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag, 1998, S. 41-47.
    • Bourdieu, Pierre: Das Werk als Text, in: Pierre Bourdieu: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag, 1998, S. 56-59.
    • Bourdieu, Pierre: Die Rückführung auf den Kontext, in: Pierre Bourdieu: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag, 1998, S. 59-61.
    • Bourdieu, Pierre: Der literarische Mikrokosmos, in: Pierre Bourdieu: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag, 1998, S. 62.
    • Bourdieu, Pierre: Das symbolische Kapital, in: Pierre Bourdieu: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag, 1998, S. 108-115.
    • Bourdieu, Pierre: Reine Kunst und kommerzielle Kunst, in: Pierre Bourdieu: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag, 1998, S. 182-186.
    • Bourdieu, Pierre: Was heißt sprechen? Zur Ökonomie des sprachlichen Tausches, 2., erw. und überarb. Azfl., Wien, Braumüller Verlag, 2005.
    • Chartier, Roger: Lesewelten. Buch und Lektüre in der frühen Neuzeit, Frankfurt am Main/New York, Campus Verlag, 1990.
    • Escarpit, Robert: Das Buch und der Leser. Entwurf einer Literatursoziologie, Köln/Opladen, Westdeutscher Verlag, 1961.
    • Escarpit, Robert: Die Revolution des Buches, Gütersloh, Bertelsmann, 1967.
    • Escarpit, Robert (Hg.): Elemente einer Literatursoziologie, Stuttgart, Enke Verlag, 1977.
    • Dörner, Andreas/Vogt, Ludgera: Kultursoziologie (Bourdieu - Mentalitätengeschichte - Zivilisationstheorie), in: Klaus-Michael Bogdal (Hg.): Neue Literaturtheorien. Eine Einführung, 2., neubearb. Aufl., Opladen, Westdeutscher Verlag, 1997.
    • Joch, Markus/Wolf, Norbert Christian (Hg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis, Tübingen, Niemeyer Verlag, 2005.
    • Jurt, Joseph: Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1995.
    • Kracauer, Siegfried: Über Erfolgsbücher und ihr Publikum, in: Siegfried Kracauer: Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag, 1963, S. 64-74.
    • Lewin, Kurt: Feldtheorie in den Sozialwissenschaften. Ausgewählte theoretische Schriften, Bern, Hans Huber Verlag, 1963.
    • Löwenthal, Leo: Literatur und Gesellschaft. Das Buch in der Massenkultur, Neuwied/Berlin, Luchterhand Verlag, 1964.
    • Löwenthal, Leo: Notizen zur Literatursoziologie, Stuttgart, Enke Verlag, 1975.
    • Löwenthal, Leo: Literatur und Massenkultur. Schriften I, Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag, 1990.
    • Luhmann, Niklas: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, in: Hans Gumbrecht (Hg.): Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselementes, Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag, 1986, S. 620-672.
    • Luhmann, Niklas: Die Ausdifferenzierung des Kunstsystems, Bern, Benteli Verlag, 1994.
    • Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag, 1995.

 

 

 

 

 



 

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