[ÜBERSICHT]

 


 

Rezeptionsästhetik

 

Wenn Jauß in dem Standardwerk zur Rezeptionstheorie „Literaturgeschichte als Provokation“ folgendes schreibt: „Geschichte der Literatur ist ein Prozeß ästhetischer Rezeption und Produktion, der sich in der Aktualisierung literarischer Texte durch den aufnehmenden Leser, den reflektierenden Kritiker und den selbst wieder produzierenden Schriftsteller vollzieht.“ (S. 172) hat er zwar Recht, greift aber – wie Sie mit Ihrem inzwischen angeeigneten Wissen sofort bemerken werden – zu kurz. Jauß übernimmt nämlich hier unreflektiert die in der Literaturwissenschaft leider selbstverständliche Gleichsetzung von Produktion allein mit der Funktion des Schriftstellers einerseits und Konsumtion mit der Funktion der Rezipienten. Sie erinnern sich sicher an den Text von Tucholsky, in dem er immerhin von einer Mittlerfunktion des Literaturbetriebs gesprochen hatte, der bei Jauß erst gar nicht erwähnt wird. Dass dieser Literaturbetrieb selbst für die Entstehung eines Großteils der Literatur überhaupt maßgeblich verantwortlich ist, erkennt er gar nicht. Und wahrscheinlich werden Sie außerdem aus der Sitzung über den Vertrieb wissen, dass die Rezipienten durch den „schöpferischen Nachvollzug“ des Textes überhaupt keinen konkreten Einfluss nehmen können, ganz im Gegenteil zu ihrer Kaufentscheidung erstens und zweitens der Marktforschung der Verlage. Jauß ahnt hier etwas durchaus Richtiges und Wichtiges; durch die Unkenntnis der konkreten Literaturvermittlung aber verkennt er die eigentlichen Einflussmöglichkeiten der Rezipienten. Oder um mit den Worten von Jauß zu sprechen: die Dimension der Rezeption und Wirkung hat durchaus handfeste Auswirkungen auf den geschlossenen Kreis der Produktions- und Darstellungsästhetik. Oder um Iser zu parodieren: wenn es um den Einfluss der Rezipienten auf die Literatur geht, ist es weniger sinnvoll den Akt des Lesens als den des Kaufens zu analysieren, bei dem sich der Leserwille ungleich deutlicher und durchschlagender äußert.

Ganz wichtig ist an dieser Stelle zu verstehen, was der Jaußsche Begriff „Erwartungshorizont“ bedeutet: für Jauß wird die Rezeption eines Textes durch ein bereits vor der Lektüre gegebenes Vorverständnis von verschiedenen Faktoren bestimmt, wie beispielsweise Bezugnahmen auf bereits kanonisierte Texte, auf Fiktion bzw. Faktualität oder auf Textgattungen usw. Diese Faktoren und die jeweils individuellen Erfahrungen der Leser bestimmen den sogenannten „Erwartungshorizont“ der Leser. So werden beispielsweise Bücher, die als „Erzählung“ deklariert werden, schon allein durch diesen Bezug auf eine Textgattung ungleich schlechter verkauft als Bücher, die sich als „Roman“ deklarieren. Sie werden allerdings auf Grund der vergangenen Sitzungen merken, dass diese Faktoren sicher eine Rolle spielen, aber dass sie sich erstens ausschließlich auf Kategorien der Germanistik beziehen und dass diese Kategorien für die Mehrzahl der Buchkäufer weniger bedeutend bis unbekannt sind. Und zweitens werden Ihnen einige Faktoren einfallen, die wesentlich bedeutender für Kaufentscheidungen, Rezeption und Lektüre sind.

Diese Faktoren außerhalb des ästhetisch-germanistischen „Erwartungshorizontes“ sucht beispielsweise die Literatursoziologie ähnlich wie Scherer konsequent zu eruieren, nur dass sie nicht per definitionem von der Person des Autors ausgeht. Sie werden sie am Beispiel von Bourdieu kennen lernen.

Jauß sieht darin eine gefährliche Gegenposition zu seinen Thesen, weshalb er in dem Textausschnitt, den Sie im Anhang der Mail finden, polemisiert: „Die Beziehung von Literatur und Publikum geht nicht darin auf, daß jedes Werk sein spezifisches, historisch und soziologisch bestimmbares Publikum hat, daß jeder Schriftsteller vom Milieu, dem Anschauungskreis und der Ideologie seines Publikums abhängig ist und daß der literarische Erfolg ein Buch voraussetzt, 'das zum Ausdruck bringt, was die Gruppe erwartete, ein Buch, welches der Gruppe ihr eigenes Bild offenbart'.“ Die literatursoziologische Position werden Sie genauer und nicht in einer Verzerrung mit polemischer Absicht kennen lernen, weshalb ich an dieser Stelle nur kurz auf die Argumentation eingehen möchte: während Jauß den „Erwartungshorizont“ überwiegend auf ästhetische Kategorien einschränkt, wirft er der Literatursoziologie vor, sie schränke ihre Darstellung auf außerliterarische Kriterien ein, was dem Selbstverständnis der Literatursoziologie nicht entspricht.

Beide Positionen haben gemein, dass sie den literarischen Erfolg, den bereits Scherer hundert Jahre zuvor zu analysieren versuchte, nicht adäquat beschreiben können. Das kann allerdings bis heute niemand. Das spricht dafür, dass nicht die Einschränkung auf einige wenige Faktoren der richtige Weg zum Verständnis des Literaturmarktes darstellt, sondern dass man sich auf die Suche nach vielen weiteren, bisher unbekannten Faktoren machen muss, seien es ästhetische, soziologische oder ökonomische.

Die Rezipienten sind jedenfalls in der Darstellung von Jauß nicht emanzipierter als in der von Adorno. Denn der sogenannte „Erfahrungshorizont“ lässt sich von Jauß erst im Nachhinein empirisch nachweisen und ist bis dahin lediglich als interpretatorisches Konstrukt gegeben. Die Differenz zwischen diesem Konstrukt und den tatsächlichen Reaktionen soll nach Jauß Aufschluss darüber geben, wie groß der ästhetische Wert des Produkts ist.

Es wird Sie nicht verwundern, dass Jauß so auf anderem Wege zu ähnlichen Ergebnissen wie Adorno kommt: je mehr der Erwartungshorizont der Leser hintertrieben wird, umso größer ist der literarische Wert. Umgekehrt hat für ihn die „Unterhaltungskunst“ lediglich „kulinarischen“ Wert. Bei der Argumentation von Jauß müssen Sie aber immer mit bedenken, dass dieser „Erwartungshorizont“ nicht gegeben, sondern nur interpretatorsch konstruiert werden kann.

Es spricht gegen die Rezeptionsästhetik und für die Literatursoziologie, dass letztere eben nicht bei nachträglichen empirischen Erklärungsversuchen stehen bleiben muss, sondern unter Verwendung von Techniken wie Marktforschung, Markterhebung usw. die Entstehung von Büchern aktiv beeinflusst. Das spricht dafür, dass sie die für den Literaturmarkt einflussreicheren Faktoren erkannt hat.

Die Frage des Einflusses der Rezipienten können Sie übrigens bei Interesse bis zur antiken Rhetorik und Sophistik zurück verfolgen. Die Rhetorik ging ganz selbstverständlich davon aus, dass der Vortragende sich – nicht nur in der Form der Darstellung, sondern auch in dem Inhalt des Dargestellten – auf die jeweiligen Zuhörer einstellen müsse. Die Sophistik wurde vor allem durch Platon dafür kritisiert, dass ihre Vertreter aus dieser inhaltlichen Ausrichtung aufs Publikum auch ökonomische Vorteile für sich zogen. Im heutigen breiten Berufsschriftstellertum, dass sich weniger ingeniösen Eingebungen als handfester Marktforschung verdankt, ist dieses Prinzip institutionalisiert worden, ohne dass dem in literaturwissenschaftlichen Interpretationen Rechnung getragen würde.




| Literatur

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